Geschichten

Lilis Herzenswunsch

Ida hoppelt über die Wiese und ruft nach ihrer Schwester:

„Lili! Lili, wo bist du?“

Ida hat schon überall gesucht. Hinter den Büschen neben dem Feldweg, beim Stein an der Weggabelung und bei der grossen Eiche am Waldrand.

„Wahrscheinlich sitzt Lili wieder auf der Blumenwiese und denkt nach“, murmelt Ida vor sich hin. Als sie die Wiese endlich erreicht, sieht sie Lilis lange Ohren zwischen den Blumen und Gräsern hervorgucken.

„Lili, ich habe dich gesucht! Was machst du denn hier?“

„Ich denke nach.“

„Worüber?“, will Ida wissen.

„Über meinen Herzenswunsch.“

Ida setzt sich neben Lili ins Gras und bewundert die Blumen und die vielen verschiedenen Gräser.

„Was ist ein Herzenswunsch?“, will sie wissen.

„Das ist ein Wunsch, der tief in deinem Herzen sitzt und dir sehr wichtig ist.“

„Und was ist dein Herzenswunsch?“, fragt Ida und sieht Lili mit grossen Augen an.

„Darüber muss ich eben nachdenken.“

 

Ida kann nicht so lange still sitzen wie Lili und beginnt vergnügt auf der Wiese herumzuhoppeln. Sie macht Luftsprünge und versucht mit einem Schmetterling mitzuhalten, der von einer Blume zur nächsten flattert.
Als die Sonne unter geht, machen die beiden sich auf den Heimweg. Ida hüpft neben ihrer Schwester her und singt immer und immer wieder das gleiche Lied. Doch plötzlich bleibt sie stehen und zupft Lili am Fell. 

„Du, Lili, muss man eigentlich einen Herzenswunsch haben?“

Jetzt bleibt auch Lili stehen und überlegt angestrengt.

„Nein, ich glaube, man muss nicht, aber es ist schön, einen zu haben.“ 

 

 

 

Als Lili und Ida endlich nach Hause kommen, schimpft Mama Hase einwenig, weil sie so lange weggeblieben sind. „Lili musste nachdenken, deswegen hat es so lange gedauert“, sagt Ida und kaut auf einer Karotte herum. „Irgendwann ist Lili so dünn wie ein Grashalm, weil sie wegen dem vielen Nachdenken immer wieder das Abendessen verpasst!“ Felix findet es lustig, seine Schwester zu necken. Lili aber ärgert sich und streckt ihm die Zunge raus. „So Kinder, jetzt reicht es! Löffelt eure Suppe aus und esst die Karotten auf, danach geht es ab ins Bett!“ Mama Hases Schnurrhaare zittern, wie immer, wenn sie etwas aufgebracht ist.

 

Mama Hase ist manchmal streng, aber sie liebt ihre Hasenkinder sehr. Wie jeden Abend, wenn Lili, Ida und Felix sich in ihre Betten gekuschelt haben, schaut sie noch einmal nach ihnen. Als sie sieht, wie die drei friedlich schlafen, lächelt sie und streicht jedem liebevoll über die langen Hasenohren. Danach geht auch sie zu Bett.

 

Am nächsten Morgen steht Lili auf und hoppelt zu Mama Hase in die Küche.

„Mama, ich habe etwas Schönes geträumt!“, erzählt Lili aufgeregt.

„Waf hast du geträumt?“, fragt Ida mit vollem Mund.

Sie sitzt mit Felix am Küchentisch und hat sich gerade ein riesiges Stück Frühstückskarottenkuchen in den Mund gesteckt.

„Ich habe von einem Fest geträumt und ihr und alle meine Freunde wart da. Und genau so ein Fest möchte ich machen.“

„Aber du hast doch gar nicht Geburtstag!“, ruft Felix.

„Dann will ich aber auch ein Fest für meine Freunde machen!“, ruft Ida aufgebracht.

„Jetzt lasst Lili doch erst einmal ausreden“, versucht Mama Hase Ida und Felix zu beruhigen.

Das Fest soll in zwei Wochen stattfinden. Mama Hase hat Lili versprochen, ihr ihren Lieblingskuchen zu backen und Ida und Felix dürfen ihre Freunde auch einladen. Lili macht vor Freude Luftsprünge und beginnt die Einladungskarten zu basteln. 

 

Am nächsten Tag regnet es. Lili findet Regenwetter schrecklich, weil dann alles so nass und, wie sie findet, ungemütlich ist und nur halb so viel Spass macht. Trotzdem will sie mit dem Austragen der Einladungen beginnen. 

Als erstes besucht sie ihre Freundin Lotte. Sie kennen sich bereits ihr ganzes Hasenleben. Sie haben zusammen Hoppelwettrennen veranstaltet, Streiche ausgeheckt und sich bei Sonnen- und Regenwetter zur Seite gestanden.  

„Lili, schön, dich zu sehen! Langweilig, dieses Regenwetter. Findest du nicht auch?“

„Hallo Lotte! Nein, heute ist mir nicht langweilig, ich mache ein Fest und habe noch viel zu tun.“

Lili überreicht Lotte die Einladungskarte und einen kleinen Zettel dazu. Sie erklärt ihr, was es damit auf sich hat und dass sie ihn unbedingt zum Fest mitbringen soll.

Lotte freut sich und hilft Lili die restlichen Einladungen auszutragen.

 

Jetzt dauert es nur noch einen Tag bis zum Fest.  Mama Hase hat bereits kleine Törtchen gebacken und macht sich gerade mit Felix daran, Lilis Lieblingskuchen zu backen. Es duftet herrlich in der Küche. Ida stibitzt heimlich ein Törtchen und leckt sich die Zuckerglasur von den Pfoten. Danach geht sie in den Garten und stellt die Blumen ein, die sie auf der Wiese gepflückt hat. Alle sind beschäftigt, nur Lili ist nirgends zu sehen. Wo sie wohl steckt? Doch pünktlich zum Abendessen ist sie wieder da.

 

Später, als Mama Hase an ihrem Bett sitzt, flüstert Lili:

„Mama, hast du deinen Zettel ausgefüllt?“

„Ja, das habe ich“, flüstert Mama Hase zurück.

„Das ist gut, ich habe meinen auch ausgefüllt.“

Mama Hase streicht ihr über das weiche Fell und kurze Zeit später ist Lili eingeschlafen.

 

Am nächsten Morgen erwacht Lili mit einem kribbeligen Gefühl im Bauch. Ob dies wohl die Aufregung ist? Ida und Felix schlafen noch, doch Mama Hase ist schon aufgestanden und trifft die letzten Vorbereitungen für das Fest. Lili hoppelt hinaus in den Garten. Die Sonne lacht ihr entgegen und auf einem Baum sitzt eine Amsel und singt lautstark ihr Morgenlied. Die Luft riecht frisch und Lili reckt und streckt sich gut gelaunt. 

Dann bindet sie farbige Schleifen an den Fliederbusch in ihrem Garten. Daran will sie später die Zettel aufhängen, die sie ihren Freunden verteilt hat.

 

Bereits am frühen Nachmittag kommen die ersten Gäste. Mama und Opa Hase haben zusammen im Garten einen langen Tisch aufgestellt. Darauf stehen die verzierten Törtchen und Lilis Lieblingskuchen – der beste Karottenkuchen der Welt – grosse und kleine Schüsseln mit frischen Karotten und Becher mit Holunderblütensirup. Dazwischen hat Ida ihre Blumensträusse aufgestellt und Felix hat überall im Garten Luftballons verteilt.

 

Alle sind da und gerade als Lili den letzten Zettel an einem Zweig festgebunden hat, hoppelt Lotte durch den Garten auf sie zu.

„Lili, du hast uns doch gebeten unseren Herzenswunsch auf den Zettel zu schreiben, jetzt sind alle neugierig darauf.“

Lilis Freunde und ihre Familie sehen zu, wie sie eine Schleife löst und einen Zettel auseinander rollt.

 

„Also, auf Lottes Zettel steht:

Mein Herzenswunsch ist es, immer eine gute Freundin zu haben.“

Lili und Lotte lächeln sich an, dann liest Lili den nächsten Zettel vor.

 

„Auf Opas Zettel steht:

Mein Herzenswunsch ist es, noch lange gesund zu bleiben.“

 

„Felix Herzenswunsch ist es...“

„... dass Mama ganz für mich alleine einen Schokoladenkuchen bäckt!“, ruft Felix dazwischen und bringt damit alle zum Lachen.

 

Da hängen noch viele Zettel an den Zweigen, aber Ida ruft ungeduldig: 

„Lili, was ist dein Herzenswunsch?“

 

Alle rücken näher zu Lili. Ihre Familie und ihre Freunde sitzen Pfote an Pfote im Gras und warten gespannt auf ihre Antwort. Lilis Schnurrhaare zittern vor Aufregung, genau wie manchmal bei Mama Hase.

 

„Ich möchte jeden Tag so glücklich sein wie jetzt gerade. Das ist mein Herzenswunsch. Wer zufrieden ist, für den scheint die Sonne nämlich auch an Regentagen!“

Eine Geschichte von

Nadine Stübi


Verlier dich nicht auf der Suche nach dem

grossen Glück. Geniesse stattdessen die kleinen Glücksmomente, die dir zuteil werden. 

Nadine Stübi